Das erinnernde vs. das erlebende Ich –Wonach sehnst du dich wirklich – und warum?
- Ronny
- 29. März
- 8 Min. Lesezeit
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Kinder möchten schnell erwachsen werden. Erwachsene blicken oft wehmütig zurück und wünschen sich, die Zeit anhalten zu können.
Die Jugend ist voller Pläne und hat wenig Zeit für die Eltern. Die Älteren würden alles dafür geben, die eigenen Eltern noch ein einziges Mal zu sehen.
Singles wünschen sich die Nähe einer Partnerschaft. Verheiratete träumen manchmal von mehr Freiheit.
Oft begehren wir das, was wir gerade nicht haben – oder das, was verloren ging.
Dieses Paradox der Sehnsucht lässt sich aus vielen Blickwinkeln betrachten.
Doch eine bestimmte Perspektive hat meine Sicht auf mein eigenes Leben grundlegend verändert.
Kaum eine Erkenntnis hat mich so wachgerüttelt wie diese eine:
Das erlebende Ich vs. das erinnernde Ich
Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman beschreibt in seinem Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" zwei Arten unseres Selbst:
das erlebende Ich und das erinnernde Ich.
Beide beeinflussen auf unterschiedliche Weise, wie wir Glück und Zufriedenheit empfinden.
Das erlebende Ich lebt im Hier und Jetzt.
Es nimmt den Moment unmittelbar wahr, schmeckt, fühlt, hört, erlebt.
In seiner reinen Form ist es neutral. Es kann Freude, Genuss, Zufriedenheit oder auch Frust und Schmerz direkt spüren, ohne viel darüber nachzudenken.
Wenn wir ganz im Moment aufgehen, vertieft oder im Flow sind, ist dieses erlebende Ich oft friedlich und zufrieden.
Wie das erinnernde Ich unsere Zufriedenheit beeinflusst
(Inspiriert von den Gedanken Daniel Kahnemans – und weitergedacht im Licht eigener Erfahrungen.)
Unzufriedenheit entsteht erst dann, wenn Erwartungen, Vergleiche oder unerfüllte Wünsche den Moment überlagern.
Hier kommt das erinnernde Ich ins Spiel. Es blickt zurück und bewertet unsere Erfahrungen im Nachhinein.
Dabei ist es alles andere als objektiv. Es erinnert sich vor allem an Höhepunkte, Krisen und das Ende einer Erfahrung und blendet vieles dazwischen aus.
Oft verklärt es die Vergangenheit oder malt sich eine bessere Zukunft aus.
Das Spannende ist, dass das erinnernde Ich Maßstäbe setzt, die es dem erlebenden Ich überstülpt.
So entsteht leicht das Gefühl: Jetzt ist es nicht genug. Auch wenn der Moment eigentlich angenehm oder sogar schön ist.
Wir können in eine Art innere Spannung geraten. Das erinnernde Ich erzählt uns, dass wir früher glücklicher waren oder morgen glücklicher sein könnten.
Das erlebende Ich beginnt, sich mit diesen idealisierten Bildern zu messen. Genau das lässt uns oft glauben, unser Glück liege woanders, in einer anderen Zeit oder unter anderen Umständen.
Beide "Ichs" benötigen unterschiedliche Impulse oder Lebensweisen, um zufrieden zu sein.

Das erlebende Ich ist oft dann zufrieden, wenn es einfach nur im Moment sein darf. Wenn es sich nicht um die Zukunft sorgen muss und die Gedanken nicht um die Vergangenheit kreisen.
Vor allem dann, wenn der Moment eine gewisse Gemütlichkeit oder Annehmlichkeit hat, wie ein lauer Sommerabend mit körperliche Ruhe.
Das erinnernde Ich könnte hingegen die Zeit im Nachhinein anders einordnen und sagen: „Eigentlich habe ich in dieser Zeit nichts erlebt.“
Das erinnernde Ich funktioniert anders und es kann dir Momente tiefgreifender Zufriedenheit schenken!
Vielleicht kennst du das auch. Eine schöne Erinnerung aus der Vergangenheit, die dein erlebendes Ich aber als anstrengend empfunden hat.
Zum Beispiel eine Urlaubsreise mit einer über zehnstündigen, unangenehmen Autofahrt nach Kroatien oder Südfrankreich oder ein Camping-Erlebnis im Wald mit Verzicht auf Komfort.
Dein erlebendes Ich hatte in diesen Momenten vielleicht Hunger, war müde, wünschte sich Ruhe oder hat vielleicht sogar geflucht und dein erinnerndes Ich speichert die Erfahrung als Highlight des Jahres ab!
Wie ist das möglich?
Der Höhepunkt und das Ende
Daniel Kahnemann beschreibt mit der sogenannten Peak-End-Regel, dass wir unsere Erlebnisse im Rückblick nicht nach ihrer gesamten Länge bewerten.
Stattdessen beeinflussen vor allem zwei Faktoren, wie wir eine Erfahrung in Erinnerung behalten:
1. Der Höhepunkt: Das erinnernde Ich speichert vor allem den emotional intensivsten Moment ab – ob besonders schön oder besonders schmerzhaft.
Dieser Peak überstrahlt oft den Rest der Erfahrung, selbst wenn die übrige Zeit eher neutral, durchschnittlich oder sogar unangenehm war.
2. Das Ende: Ebenso prägt das Ende einer Erfahrung unser Gesamturteil. Ein positiver Abschluss kann eine anstrengende Phase im Nachhinein in ein besseres Licht rücken.
Umgekehrt kann ein negatives Ende dazu führen, dass wir das Ganze schlechter bewerten, selbst wenn viele Momente davor angenehm waren.
Unsere Erinnerungen sind also keine nüchterne Aufzeichnung des gesamten Verlaufs, sondern eine stark selektive Momentaufnahme – zusammengesetzt aus wenigen, aber besonders einprägsamen Punkten.
Wow! In dieser Erkenntnis stecken eine Menge Handlungsmöglichkeiten drin.
Wenn ich mir also eine möglichst schöne Erinnerung kreieren möchte, sollte ich vor allem auf zwei Punkte achten.
Einen emotionalen Höhepunkt und wie ein Erlebnis endet. Das verleiht dem Sprichwort "Man soll aufhören, wenn es am Schönsten ist" eine Menge Nachdruck.
Während eines Erlebnisses, mache dir gerne diese zwei Punkte bewusst.
Wenn du einen emotionalen positiven Höhepunkt verspürst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dein erinnerndes Ich die Erfahrung als eine sehr schöne abspeichert und achte darauf, die Erfahrung positiv zu beenden.
Beide Punkte funktionieren auch bei negativen Erfahrungen und Kahnemann benutzt hier das Beispiel eines Zahnarztbesuches
In einer Untersuchung ließ Kahnemann Patienten den Schmerz während eines Zahnarztbesuchs bewerten.
Die Patienten bekamen keine Betäubung und sollten regelmäßig während der Behandlung angeben, wie stark ihr Schmerz im Moment war.
Nach dem Eingriff wurden sie gebeten, rückblickend einzuschätzen, wie unangenehm der gesamte Besuch für sie war.
Das Ergebnis war bemerkenswert: Die Länge der Behandlung spielte kaum eine Rolle für die Erinnerung an den Schmerz. Stattdessen waren zwei Dinge entscheidend:
Der schmerzhafteste Moment während der Behandlung – der Peak – bestimmte stark, wie unangenehm der gesamte Zahnarztbesuch in Erinnerung blieb.
Das Ende der Behandlung: War der Schmerz zum Schluss milder oder leichter erträglich, bewerteten die Patienten den gesamten Eingriff rückblickend deutlich positiver, selbst wenn der Eingriff länger dauerte.
Kahnemann nutzte dieses Beispiel, um zu zeigen, wie sehr unser erinnerndes Ich die Gesamterfahrung anhand von Höhepunkt und Ende konstruiert – unabhängig von der tatsächlichen Dauer oder vom gesamten Durchschnitt des Erlebten.
Auch hieraus lassen sich konkrete Handlungsmöglichkeiten ableiten. Besonders hervorzuheben wäre das Ende einer negativen Erfahrung.
Wenn du dir hier erlaubst, so gut es eben möglich ist, das Schmerzlevel etwas zu reduzieren und die Erfahrung mit einem positiven, konstruktiven Ansatz zu beenden, wird das Erlebnis als weniger negativ abgespeichert.
Es gibt außerdem interessante Untersuchungen, die nahelegen, dass man die Verarbeitung belastender Erlebnisse beeinflussen kann.
Erste Studien zeigen, dass einfache Spiele wie Tetris unmittelbar nach einer emotional aufwühlenden Erfahrung dabei helfen könnten, die intensive Verankerung dieser Erfahrung im Gedächtnis abzuschwächen.
Der Mechanismus dahinter ist, dass solche Spiele unsere visuelle und räumliche Aufmerksamkeit binden.
Dadurch bleibt weniger Kapazität, um das Erlebte gedanklich immer wieder durchzuspielen.
Das Spiel lenkt das Gehirn auf neutrale Reize und unterbricht möglicherweise den Kreislauf des Wiederkauens negativer Eindrücke.
So könnte verhindert werden, dass sich belastende Bilder oder Gefühle dauerhaft einprägen.
Wichtig ist jedoch: Diese Theorie ist noch nicht abschließend bestätigt. Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend, aber es bedarf noch weiterer Forschung, um zu klären, wie stabil dieser Effekt tatsächlich ist.
Es muss nicht zwingend Tetris sein. Entscheidend ist, was direkt im Anschluss an eine schwierige Erfahrung passiert.
Wenn du dein Gehirn gezielt mit etwas beschäftigst, das entweder neutral bindet – wie ein Spiel – oder dir nachweislich guttut, wie ein Spaziergang, Musik oder ein warmes Bad, kann das helfen, die emotionale Schwere des Moments abzufedern.
Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Du kannst das bewusst einplanen.
Wenn du weißt, dass ein schwieriges Gespräch oder ein belastender Moment bevorsteht – plane direkt danach eine Aktivität, die deinem System ein Gegengewicht bietet. So gibst du deinem Gehirn die Chance, den Eindruck nicht zu tief einzugraben.
Welches Ich stelle ich zufrieden?
Für mich persönlich ergibt sich daraus eine zentrale Frage: Für welches Ich lebe ich?
Und die Antwort auf meine Frage lautet: Ich lebe für beide Ichs. Und ich habe verstanden, dass jedes von ihnen etwas anderes braucht.
Mein erlebendes Ich ist zufrieden mit einer Tasse Kaffee in der Sonne am liebsten mit einem geschätzten Menschen, mit dem ich dies teilen kann.
Aber auch mit Spaziergängen in der Natur, beim Schauen meiner Lieblings TV- Serie oder beim Sport.
Es geht hauptsächlich darum einfach im Moment zu sein und es auch mitzubekommen. Achtsamkeit eben.
Mein erinnerndes Ich gibt mir die Erlaubnis, meinem erlebenden Ich auch mal ein bisschen mehr zuzumuten.
Es aus der Komfortzone zu locken. Mir selbst zuzugestehen, auch mal erschöpft, genervt oder überfordert zu sein. Das spüre ich besonders, wenn ich alleine reise.
Währenddessen fühlt es sich oft anstrengend an – doch rückblickend sind genau diese Erfahrungen in meinem erinnernden Ich als kostbare Momente abgespeichert.
Genau genommen stammen viele meiner schönsten Lebenserinnerungen aus Momenten, in denen mein erlebendes Ich nicht in der Komfortzone ruhte.
Und doch habe ich gerade dann versucht, ganz bewusst innezuhalten, die Augen zu schließen – und den Moment wirklich aufzusaugen.
Ich war lebendig, habe mich etwas getraut – und genau diese Erinnerungen möchte ich um nichts in der Welt missen.
Es ist ein Abwägen zwischen den Bedürfnissen der beiden Ichs. Allein das Bewusstsein, dass sie beide existieren, unterschiedlich ticken und Verschiedenes brauchen, verändert vieles.
Vor allem sollte man vermeiden, in die allzu menschliche Falle zu tappen: zu glauben, „früher war alles besser“ oder „wenn ich nur xy hätte, wäre alles gut“.
Zusammengefasst könnte man sagen – und diese Erkenntnis hat mein Leben verändert:
Das erlebende Ich liebt Einfachheit, Achtsamkeit und den Genuss im Moment.Das erinnernde Ich schätzt Herausforderung, Wachstum und intensive Erfahrungen.
Beide können aus dem Gleichgewicht geraten, wenn vor allem das jeweils andere Ich angesprochen wird.
In diesem Sinne – egal ob am Wochenende oder genau jetzt, während du diese Zeilen liest oder hörst:
Wie bewusst sind dir dein erlebendes und dein erinnerndes Ich?
Und was kannst du heute für beide tun?
Heutige Kerntropfen
1 Das Paradox menschlicher Sehnsucht: Kinder wollen schnell erwachsen werden, Erwachsene wünschen sich ihre Kindheit zurück.
Ähnlich verhält es sich mit Zeit für Eltern, Arbeit, Freizeit oder Partnerschaft – oft begehren wir, was wir gerade nicht haben.
2 Zwei Ichs beeinflussen unser Glück: Daniel Kahneman unterscheidet zwischen dem erlebenden Ich (im Moment lebend) und dem erinnernden Ich (wertet und speichert Erlebnisse rückblickend).
3 Das erlebende Ich: Es ist zufrieden, wenn es im Hier und Jetzt sein darf – frei von Vergleichen, Erwartungen oder Gedanken an Vergangenheit und Zukunft.
4 Das erinnernde Ich: Es speichert vor allem Höhepunkte, Krisen und das Ende einer Erfahrung. Der Rest wird oft ausgeblendet oder verzerrt wahrgenommen.
5 Peak-End-Regel: Unsere Erinnerungen werden besonders vom emotional intensivsten Moment (Peak) und dem Ende einer Erfahrung geprägt – unabhängig von deren Dauer oder Durchschnitt.
6 Praktische Anwendung: Positive Höhepunkte bewusst schaffen und Erlebnisse positiv beenden, um schöne Erinnerungen zu fördern.
Bei negativen Erfahrungen hilft ein sanftes, angenehmes Ende, um das Erlebnis milder abzuspeichern.
7 Negatives abfedern: Studien zeigen, dass simple Tätigkeiten (wie z. B. Tetris spielen) nach belastenden Erlebnissen helfen könnten, die emotionale Verankerung im Gedächtnis abzuschwächen.
8 Beide Ichs brauchen Unterschiedliches: Das erlebende Ich liebt Einfachheit, Achtsamkeit, Genuss im Moment. Das erinnernde Ich schätzt Herausforderung, Wachstum und intensive Erlebnisse.
9 Bewusstes Abwägen: Es lohnt sich, immer wieder innezuhalten und zu überlegen, welches Ich man gerade anspricht – und dabei nicht der Falle zu erliegen, dass „früher alles besser“ oder „morgen alles perfekt“ sei.
10 Frage an dich: Was kannst du heute für dein erlebendes und dein erinnerndes Ich tun?
5 Gedankentropfen Highlights
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